Deutsches Volksliedgut in kritischer Betrachtung

 

 

 

"Ist Euch an der Weise nichts gelegen?

Mich dünkt, sollt' passen Ton und Wort."

 

Hans Sachs in Richard Wagners

„Die Meistersinger von Nürnberg“

 

 

Einleitung

Das deutsche Volksliedgut stellt in seiner Gesamtheit einen unermesslichen Schatz von sowohl musikalischer wie textlicher Vielfalt dar. Der Wert des häuslichen (oder auch schulischen) Singens an sich ist anderswo oft beschrieben worden. Ich möchte aber gerade auch auf den künstlerischen Gehalt der deutschen Volkslieder hinweisen, der von vielen bedeutenden Komponisten, allen voran Johannes Brahms, sehr geschätzt wurde.

Gerade deshalb, und um den Schatz auch für künftige Generationen zu erhalten, halte ich eine kritische Neubewertung (und eventuell Neufassung) für überfällig. Finden sich doch in den deutschen Volksliedern an vielen Stellen Ungenauigkeiten, Halb- und Unwahrheiten, die einer kritischen Überprüfung leider nicht standhalten können.

Diese Arbeit soll den Anstoß zu einem neuen Umgang mit einer wertvollen Tradition geben, an deren Erhalt uns allen gelegen sein sollte!

 

Ungenauigkeiten, Halb- und Unwahrheiten in deutschen Volksliedtexten

Der Zauber, der von einer so schlichten Melodie wie „Der Mond ist aufgegangen“ ausgeht, ist mit Worten kaum zu beschreiben und verschließt sich auch beinahe völlig der musikalischen Analyse. Kann eine Beschreibung der melodischen Linienführung, ein Hinweis auf die sechs Zeilen des Liedes, auf die raffinierte Asymmetrie am Schluss, auf die rhythmische Struktur oder die unterschwellige Harmonik auch nur annähernd wiedergeben, was das musikalische Empfinden dieses Liedes ausmacht?

Und doch (oder gerade deshalb) ist hier eine kritische Betrachtung, insbesondere des Textes, dringend geboten:

 

„Der Mond ist aufgegangen“, diese Aussage kann richtig sein, muss aber nicht! Schließlich könnte der Mond ja auch untergegangen sein, was exakt ebenso oft vorkommt! Und wer möchte dem Liebhaber des Liedes zumuten, jederzeit mit den Mondphasen vertraut zu sein, zumal in unseren Breiten oftmals das schlechte Wetter einen ungetrübten Blick auf den Nachthimmel nicht zulässt. Daher ist auch der Satz „Die güldnen Sternlein prangen“ so nicht haltbar. Selbst bei besten Sichtverhältnissen prangen nur die allerwenigsten Sternlein gülden, die meisten sind eher weißlich, mit rötlichen oder bläulichen Abweichungen.

Dahingegen ist „der Wald steht schwarz und schweiget“ meiner Meinung nach, zumindest im Schwarzwald, eher unbedenklich.

 

Trotzdem zeigt dieses kleine Beispiel bereits die Problematik auf: die Volksliedtexte sind oftmals zu unpräzise, fehlerhaft, in günstigeren Fällen missverständlich.

Deutlich wird dies an folgendem Beispiel:

 

Auf den ersten Blick will einem an dem Lied „Alle Vögel sind schon da“ nichts Unkorrektes auffallen! Wie unsinnig, ja grotesk dieses eigentlich hübsche Lied in Wahrheit ist, fällt erst auf, wenn man die Phantasie besitzt, sich vorzustellen, alle Vögel wären wirklich schon da. Alle! Das kann niemand ernst meinen, und doch wird es jeden Frühling aufs Neue immer wieder genau so behauptet. Solche Übertreibungen sind nicht nur missverständlich, sondern auch gefährlich für das ökologische Gleichgewicht.

 

In diesem Kontext fällt das Lied „Kommt ein (!)Vogel geflogen“ äußerst positiv auf! Da stimmen die Proportionen und auf jegliche Sensationsmacherei wird verzichtet zu Gunsten einer bescheidenen, aber dadurch umso wirkungsvolleren Situationsbeschreibung: Ein Vogel auf einem Fuß!

 

Dass Genie und Wahnsinn gelegentlich dicht beieinander liegen können, zeigt das Lied „Heißa, Kathreinerle“. Einerseits soll sich Kathreinerle die Schuh schnüren, und dagegen ist ja wirklich nichts einzuwenden; auch die Anweisung, ihr Röckele zu schürzen ist, meiner Ansicht nach, noch nicht zu viel verlangt, dann aber soll sie sich kein’ Ruh gönnen, und das verletzt doch eklatant die Menschenwürde!

Wie ist es möglich, dass solche Liedtexte immer noch unreflektiert gesungen werden? Schade um das schöne Lied, welches mit einer wirklich anrührender Phrase fortfährt: „Didel, dudel, dadel, schrumm, schrumm, schrumm!“. Das ist gekonnt formuliert und von überzeugender Aussage, um dann leider sogleich wieder in unpräzise Halbwahrheiten zu verfallen: „Geht schon der Hopser rum!“. Von welchem Hopser ist hier die Rede? Ist es das Pferdchen aus „Hopp, hopp, hopp“, diese Vermutung liegt durchaus nahe; denkbar wäre aber auch das Häschen in der Grube, und hier begegnet uns eine neue und noch dramatischere Problematik; die der subtilen Suggestion mit musikalischen Mitteln:

 

Schlimm ist es nämlich, wenn der Text eines Liedes Mitgefühl heuchelt, während die Melodieführung ungeschminkt Schadenfreude suggeriert, so in dem Lied „Häschen in der Grube“: Die Zeile „Armes Häschen, bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst“ bewegt sich drei Takte lang in mitleidigem Tonfall in Sekundschritten abwärts (Seufzermotiv!), um dann im vierten Takt bei „hüpfen kannst“ das arme, kranke Häschen mit albernen Terzsprüngen aufwärts zu verspotten. Das ist durchaus gekonnt komponiert, doch moralisch verwerflich.

 

Bedenklich, wenn nicht gar gefährlich ist es, wenn in Kinderliedern gedanken- und rücksichtslos Unwahrheiten verbreitet werden: „Ringel, Ringel, Reihe“ ist zweifelsohne noch richtig, aber bei „sind der Kinder dreie“ muss man sich doch Fragen, ob hier nur um des Reimes willen gelogen wird!

Skandalös ist dann: „Sitzen unterm Holderbusch, schreien alle Husch, husch, husch!“. Hier wird einem Sittenverfall das Wort geredet, das einem Angst werden kann! Als ob wir nicht schon genug Probleme bei der Erziehung junger Menschen zu höflichem und verantwortungsvollen Benehmen hätten, werden hier Kinder zu ungehemmter Lärmbelästigung animiert.

Glücklicherweise (muss man leider hinzufügen) entspricht auch diese Zeile meistens nicht der Wahrheit: Unter den allermeisten Holderbüschen sitzen überhaupt keine Kinder, und dort wo tatsächlich welche zu finden sind, halten sie sich dort meist zu zweit oder allein auf, nur ganz selten zu dritt oder mehr, da Holderbüsche in der Regel für so viele Kinder kaum Platz bieten. Und zum Glück schreien sie fast nie „Husch, husch, husch“. so weit ist es noch nicht gekommen, aber wir sollten auf der Hut sein!

 

 Erfrischenden Optimismus hingegen verbreitet das Lied „Froh zu sein bedarf es wenig“, doch ist „und wer froh ist, ist ein König!“ nicht ein peinlicher Anachronismus? Sollte es in unserer heutigen aufgeklärten Zeit nicht heißen: „und wer froh ist, ist ein aufrechter Demokrat“?

Mir ist natürlich bewusst, dass ich mit diesem Vorschlag das Versmaß verletze und auch den Reim beschädige, aber ist dieses Opfer angesichts der gewaltigen politischen Herausforderungen unserer Zeit nicht angemessen? Man denke nur an den Klimaschutz, den internationalen Terrorismus, Hartz 4 ...

 

Ärgerlich in diesem Kontext ist auch das Lied „Zeigt her eure Füße...“. Zwar wird auf das schwere Schicksal der Waschfrauen hingewiesen: „sie waschen den ganzen Tag“, doch sucht man die entscheidende Frage nach angemessenem Mindestlohn für diese aufopferungsvolle Arbeit vergebens!

Statt an die soziale Verantwortung jedes einzelnen zu appellieren, wird man nur aufgefordert, seine Füße und seine Schuhe herzuzeigen. Was, bitte schön, soll das? Ist das Füße und Schuhe herzeigen auch nur im mindesten geeignet, das Los der armen Waschfrauen zu lindern?

 

Voller Ungenauigkeiten und Halbwahrheiten steckt auch das Lied „Backe, backe Kuchen“. Fast möchte man meinen, der Kuchen selbst würde aufgefordert, zu backen!

Oder ist mit „Backe“ eigentlich die Wange gemeint? Schlimmer noch ist die naheliegende Vermutung, dass es sich hier um eine obszöne Anspielung handelt, und tatsächlich die Po-Backe gemeint ist (aber welche?). „Der Bäcker hat gerufen“ erscheint in diesem Zusammenhang auch als eher problematisch. Was dieser Kerl gerufen haben mag, will ich mir gar nicht vorstellen! Für Kinder ist es auf jeden Fall nicht geeignet. Brauchen wir eine freiwillige Selbstkontrolle bei Volks- und Kinderliedern? Ich denke ja! Der Schutz unserer Jugend sollte immer Priorität genießen.

Einfach falsch ist hingegen die Aussage „wer will guten Kuchen backen, der muss haben sieben Sachen“. Einige der besten Kuchen werden mit nur fünf oder sechs Sachen gebacken (von dem haarsträubenden Reim einmal ganz abgesehen), und dass Safran den Kuchen gehl mache, ist einfach nur lächerlich. Tests haben eindeutig nachgewiesen, dass Safran den Kuchen gelb und nicht gehl macht!

 

Genauso falsch ist die Behauptung: „Onkel Jörg hat einen Bauernhof!" Was den meisten gar nicht bewusst ist, ist, dass Onkel Jörg Abteilungsleiter in einem mittelständigen Betrieb in der Oberlausitz ist!

 

Ein besonders problematisches Beispiel

Während bei den vorangegangenen Beispielen eher von Fahrlässigkeit der Autoren ausgegangen werden kann, muss bei dem nun folgenden Lied "Ein Jäger aus Kurpfalz" befürchtet werden, dass sich hier eine böswillige Absicht verbirgt!

Hinter der schwungvollen Fassade eines flotten Jagdliedes verbergen sich gröbste Ungereimtheiten. Der Autor dieses Liedes muss gedacht haben, seine schmutzigen Absichten in schierer Fröhlichkeit verbergen zu können! Deshalb ist es dringend angesagt, klar zu sehen und klar zu reden:

Der rhythmisch-metrische Fehler, mit dem das Lied eröffnet wird, „Ein Jäger aus Kurpfaaalz“, mit der falschen Betonung auf ...pfaaalz, kann ja vielleicht noch verziehen werden.

„Er reitet durch den grünen Wald“, dagegen ist scheinbar auch noch nichts einzuwenden, wenn man nicht bemerkt, dass es offensichtlich Frühling ist, und dass die Fauna des Waldes mit ihren vielen Jungtieren gerade in dieser Jahreszeit eines besonderen Schutzes bedarf! Aber von Schutz kann keine Rede sein:

„Er schießt das Wild daher, gleich wie es ihm gefällt!“ In Zeiten eines neuen Bewusstseins für den Natur- und Artenschutz ist eine solche Zeile einfach unerträglich! Und wie zum Hohn folgt auch noch „gar lustig ist die Jägerei!“

Ich kann das nicht witzig finden!

Muss nicht vermutet werden, dass der „Jäger aus Kurpfalz“ niemand anderes als der Autor selber ist? Ich kann das nicht beweisen, aber die vielen Indizien sprechen meiner Meinung nach eine eindeutige Sprache!

Unwillkürlich möchte man empört ausrufen: „Lauf, Jäger lauf!“, von mir aus längs dem Weiher, oder dahin, wo der Pfeffer wächst!

Und wäre es nicht angebracht, gegen das verbrecherische Handeln einzuschreiten? Ein erster Schritt, wäre es, dieses Lied gänzlich aus dem Schatz des deutschen Volksliedgutes zu verbannen, es allenfalls als abschreckendes Beispiel für die jüngere Generation zu bewahren!

 

 

 

Positive Beispiele

Um dem Eindruck ständiger Miesmacherei entgegenzutreten, möchte ich an dieser Stelle einige durchaus positive Beispiele von Textstellen aus deutschen Volksliedern anführen, die jeder auch noch so kritischen Prüfung standhalten:

 

„Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“

Statistische Untersuchungen haben ergeben, dass immerhin 92 % der Mühlen an rauschenden Bächen klappern! Das ist meiner Meinung nach ein durchaus zufriedenstellender Wert. Eine Fußnote, die darauf hinweißt, dass bei 8 % der Mühlen an rauschenden Bächen eher ein Rasseln, Klingeln oder Scheppern zu vernehmen ist, wäre wohl angebracht!

 

„Bienchen summ herum“

Wen der etwas raue Befehlston, mit welchem das Bienchen hier herumkommandiert wird, nicht stört, der wird an dieser Zeile seine reine Freude haben!

 

„aber brich dir nicht die Beine“

Neben dem wirklich köstlichen Reim Steine – Beine kommt hier auch ein hoher ethischer Anspruch zum tragen: die Sorge um die Beine des Pferdchens ist von rührender Eindringlichkeit und kann besonders auch für junge Menschen Vorbildcharakter haben!

 

„Ein Schneider fing `ne Maus“,

so geschehen am 14. Juli 1821 in Frankfurt an der Oder. Der Schneidermeister Wilhelm August Krahwinkel fängt gegen 7:45 Uhr, kurz nach einem kräftigen Frühstück eine Maus, die sich in einem Haufen Kehricht verborgen hält. Er zieht dem Tier das Fell ab, macht daraus einen Sack, tut darin sein Geld und kauft sich einen Bock.

Das weitere Schicksal Krahwinkels blieb dann allerdings unbekannt. Möglicherweise ritt er durch die Welt. Augenzeugen wollen ihn am 22. November 1847 in der Nähe von Castrop-Rauxel beobachtet haben, wie er dabei war, ein großer Held zu werden!

 

„fiderallala, fiderallala...“

Edel im Ton, prägnant in der Aussage! Besser kann man das nicht ausdrücken.

 

Fazit

Ich hoffe, dass es mir einerseits gelungen ist, darzulegen, wie groß der Wert der überlieferten deutschen Volkslieder auch für uns heute noch ist. Andererseits sollte deutlich geworden sein, dass es so nicht weitergeht!

Es ist dringend geboten, über eine Neufassung der Lieder nachzudenken. Meine Arbeit erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern versteht sich als Diskussionsbeitrag. Möge sie auf fruchtbaren Boden fallen.

Ein Anfang ist gemacht!



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